Cover
Titel
Taktungen und Rhythmen. Raumzeitliche Perspektiven interdisziplinär


Herausgeber
Schmolinsky, Sabine; Hitzke, Diana; Stahl, Heiner
Reihe
SpatioTemporality / RaumZeitlichkeit
Erschienen
Anzahl Seiten
VI, 268 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Reichherzer, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam

Was haben die Straßenbahn in Essen, das rasende Schlagzeugspiel eines Jazz-Musikers, mittelalterliche Messen, der Schlaf und zwei eingeklammerte Worte im Schriftbild eines Satzes gemeinsam? Sie sind Beispiele dafür, wie umfassend spatio-temporale Elemente gleichermaßen Ordnungen, Gesellschaften und schließlich das Leben des einzelnen Menschen prägen. Um Phänomene und Lebensäußerungen wie die genannten (und viele mehr) erfassen und aufeinander beziehen zu können, bieten sich „Taktung“ und „Rhythmus“ als erkenntnisbringende Begriffe an – so der Ansatz des Sammelbands „Taktungen und Rhythmen. Raumzeitliche Perspektiven interdisziplinär“, der aus einer Konferenz der Erfurter Studiengruppe „RaumZeit-Forschung“ im Juli 2013 hervorgegangen ist.1

Unter Rhythmus verstehen die Herausgeber/innen Heiner Stahl, Diana Hitzke und Sabine Schmolinsky in ihrer Einführung die „Anordnung von Beziehungen, die zeitliche Bewegungen und räumliche Konstellationen“ enthalten – Verhältnisse also, „die sich auf Anordnungen von Wiederholungen, Abweichungen und Verschiebungen beziehen“ (S. 1). Takt/Taktung knüpft hier an und „unterstellt eine vorhersagbare Wiederholbarkeit bestimmter Vorgänge“, womit ein „Gerüst zur Ordnung der Vielfalt von Bewegungen“ (S. 2) entsteht. Takt/Taktungen „versehen Rhythmen mit Richtung in der Zeit“ (S. 3). Dieses Leitverständnis von Takt/Taktung und Rhythmus ist das definitorische Minimum, das dem Band einen verbindenden Rahmen geben soll.

Vertieft werden diese einführenden Grundlagen im Beitrag von Susanne Rau, die das Konzept der „Rhythmusanalyse“ des französischen Philosophen und Urbanisten Henri Lefebvre skizziert, es zu einem Analysewerkzeug weiterentwickelt und dessen Möglichkeiten für die Raum-Zeit-Forschung aufzeigt. Der Beitrag schärft nicht nur das Bewusstsein dafür, dass Raum, Zeit, Akteure und Bewegungen eng miteinander verknüpft sind. Er verweist auch darauf, dass verschiedene Zeitformen, Zeitregime und Zeitpraktiken parallel existieren und ineinanderfließen. Daraus ergibt sich die Frage, wie die das Alltägliche bestimmende Zeitmelange mit Räumen verknüpft ist und wie Akteure diese schaffen, mit diesen umgehen und in ihnen handeln. Orientiert an Lefebvre als Referenzpunkt regt Rau an, Pluritemporalitäten oder Heterochronien nicht nur zu konstatieren, sondern auch einen Ansatz zu ihrer Erforschung zu liefern.

Die folgenden Beiträge behandeln anhand konkreter Gegenstände und aus Sicht verschiedener Disziplinen Fragen und Phänomene von Taktungen und Rhythmen. Die Kopplungen verschiedener Zeitlogiken und Räume sowie die daraus entstehenden Bewegungen werden im Beitrag von Michael Rothmann deutlich, der diese mit Blick auf mittelalterliche Messen und Jahrmärkte nachzeichnen kann.

Veronika Lang blickt auf den Menschen und seine „innere“ Uhr und damit auf das Verhältnis von Natur und Kultur. Die chronobiologische Perspektive hebt unterschiedliche Rhythmen und Taktungen hervor; die Autorin erläutert die Bedingungen und medizinischen Probleme, die entstehen, wenn die physiologisch-molekulare Uhr des menschlichen Körpers und die Uhrzeiten der modernen Arbeitsgesellschaft asynchron zueinander verlaufen.

Störungen anderer Art werden bei Heiner Stahl deutlich, der mit der Analyse des Essener Straßenbahnverkehrs die rhythmischen Bewegungsströme und Verkehrsplanungen einer Industriestadt im Ersten Weltkrieg beschreibt und hierbei die Bewegung von Körpern in Raum und Zeit – die Rhythmisierung von städtischem Raum – aufzeigt. Ebenfalls rhythmischen Bewegungen an einem konkreten Ort widmet sich Ekkehard Schönherr. Er untersucht die Geschichte des Tourismus auf Mallorca und unterzieht das dynamisch-rhythmische Entwicklungsmodell der Tourismusforschung einer kritischen Prüfung.

Mit einem Beitrag über den Aufbau und die Praxis der Innsbrucker Beobachtungsstation für vermeintlich verhaltensauffällige Kinder in den Jahren 1949 bis 1989 kann die im Januar 2019 verstorbene Sylvelyn Hähner-Rombach zeigen, wie sehr verschiedene Zeitregime mit ihren je eigenen Taktungen und Rhythmen sowohl im Alltag der Kinder als auch im Prozess des psychiatrischen Beobachtens ineinanderflossen.

„Moderation als Technik im 20. Jahrhundert“ ist das Stichwort des Aufsatzes von Daniela Zetti. Anhand des Figurenensembles Telefonistin, Cutterin, Fernsehansagerin und TV-Moderatorin leuchtet sie die Schnittstellen und die Randzonen (noch) unfertiger Technokomplexe aus. Dort stimmen die vornehmlich weiblichen Akteure verschiedene Rhythmen und Taktungen aufeinander ab, stellen Verknüpfungen her und machen Bewegungen möglich. In der noch inkompletten Maschine tragen sie so zum Fertigstellen der Technologie selbst bei – und damit schließlich zu ihrem eigenen Obsoletwerden. Die Moderationsfunktionen, verstanden als (gelungene) Verschaltungen und Anschlüsse, machen so das Management (verschiedener) raumzeitlicher Prozesse explizit deutlich.

Harmonisierungsbestrebungen widmet sich auch die Musikpädagogin und -therapeutin Lucia Kessler-Kakoulidis. In Zusammenschau der pädagogischen Ideen von Émile Jaques-Dalcroze (1865–1950) und deren architektonischen Manifestationen in der Bildungsanstalt Dresden-Hellerau argumentiert sie, dass alle rhythmischen Vorgänge und Erscheinungsformen des Lebens polar zu begreifen seien und als dynamisches Spannungsfeld ein Ganzes bildeten. Das musikpädagogische Dispositiv nach Jaques-Dalcroze zielte daher auf Ganzheitlichkeit und die Harmonisierung der Pole Leib und Seele.

Ebenfalls um Musik geht es im Beitrag des Philosophen Daniel Martin Feige. Er analysiert die „Zeitlichkeit der Jazzimprovisation“ mithilfe des durch die Hegelsche Geschichtsphilosophie inspirierten Begriffs der „Retroaktion“. Die retroaktive Zeitlichkeit der Improvisation mache deutlich, dass „der ästhetische Sinn eines zeitlich früheren Elements erst durch ein zeitlich späteres Element herausgearbeitet wird“ (S. 198). Der Sinn des Vorherigen (Früheren) entstehe also erst durch den Vollzug des Folgenden (Späteren).

Infragestellungen und Alternativen zu simplen kausal-linearen Prozessen zeigen sich auch im Text des Musik- und Kulturwissenschaftlers Oliver Schwerdt. Er wendet sich dem Körper und der Performanz von Musiker/innen zu. So ist für ihn das „Räumliche als Körperliches untersuchbar“ (S. 208). Anhand des markanten Schlagzeugspiels von Günter „Baby“ Sommer (geb. 1943) macht Schwerdt die Dynamisierung des Musikalischen deutlich. In der Terminologie von Gilles Deleuze und Félix Guattari vom „gekerbten“ und „glatten“ Raum gesprochen, löst Sommer durch sein Spiel wie auch durch die Konstellation und Erweiterung des Schlagzeugs die traditionelle linear-metrische „Kerbung“ des Schlagzeugspiels auf. Er entwickelt so eine Musik im „glatten Raum“, die von Homogenität zur Produktion und Akzeptanz von Heterogenität übergeht.

Der Literaturwissenschaftler Holt Meyer betrachtet schließlich die eingeklammerten Worte „(kak znat‘)“ – „(wer weiß)“ in einem Brief aus dem Versroman „Evgenij Onegin“ (1833) von Aleksandr Pushkin. Er geht dem durch die Klammer geschaffenen Fragment nach und befragt das so hervortretende Unvollständige auf seinen rhythmischen Charakter hin; ihn interessiert der Bezug des Fragments zum Ganzen. Mit Emphase auf intertextuelle Bezüge romantischer Literatur zeigt Meyer, wie durch die Technik der Parenthese sowohl Ordnung im Text als auch gesellschaftliche Ordnung verhandelt werden. Damit belegt er die Anschlussfähigkeit der Rhythmusanalyse nach Lefebvre auch für die Literatur- und Medienwissenschaften.

Die Herausgeber haben sich das Ziel gesetzt, etwas in Bewegung zu bringen. Zusammen mit den Autor/innen aus verschiedenen Disziplinen ist ihnen das sicher gelungen. Zwar sind die Beiträge nicht wirklich durch einen roten Faden verbunden, da Rhythmus und Takt sich doch als eigensinnige Konzepte erweisen. Das in der Einleitung skizzierte Verständnis von Taktung und Rhythmus findet sich mal mehr, mal weniger, vereinzelt gar nicht in den Beiträgen wieder. Vielmehr umkreisen die Autor/innen Taktungen und Rhythmen als Praktiken und Manifestationen des Raumzeitlichen in ihren jeweiligen Forschungsfeldern und spezifischen Operationalisierungen. Auch wenn jeder Beitrag für sich allein steht, so liefern die Autor/innen vielschichtige, durchaus aufeinander beziehbare, teils erfrischend widersprüchliche Perspektiven.

Vielleicht ist es keine allzu neue Erkenntnis, dass Zeit und Raum sowie auch Menschen und ihr Handeln in einem untrennbaren Bezugssystem zueinanderstehen. Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften können auf eine seit ihren Anfängen nie abgebrochene Debatte verweisen. Zudem ist es nicht neu, dass es die eine Zeit nicht gibt, dass Zeit gemacht wird, eine Vielheit von Zeiten existiert, sie nebeneinander herlaufen, sich kreuzen, sich mischen, in Konflikt zueinander geraten und vermittelt werden müssen. Diese Erkenntnisse sind (mittlerweile) so banal, dass gerade die Selbstverständlichkeit und das Unhinterfragte eine intensive Erforschung nicht nur rechtfertigt, sondern gerade notwendig macht. Den Zusammenhang von Raum, Zeit und Menschen sowie die Vielheit der Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten zu konstatieren, ist daher das eine. Doch wie diese Zusammenhänge konkret beschaffen sind, welche Machtstrukturen sich in ihnen reproduzieren oder erst herstellen, welche Handlungsmöglichkeiten sich ergeben und vieles mehr, ist weniger banal, sondern ein reizvolles und erkenntnisversprechendes Themenfeld interdisziplinärer Forschung. Für das Annähern, das Verstehen und das Analysieren der spatio-temporalen Assemblagen hilft dieser Band daher ungemein. Er liefert nicht nur Beispiele und identifiziert bestimmte Untersuchungsbereiche. Neben den für sich stehenden Beiträgen stellt er eine interdisziplinär nutzbare Sprache und explizit wie implizit heuristisch-analytische Konzepte bereit, die es lohnen, aufgegriffen, reflektiert, kritisiert und weitergedacht zu werden. Ein Anfang ist gemacht!

Anmerkung:
1 Vgl. den Tagungsbericht von Oliver Gondring, in: H-Soz-Kult, 28.08.2013, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-4982 (10.01.2020). Zur Forschungsgruppe siehe https://www.uni-erfurt.de/philosophische-fakultaet/raumzeit-forschung/, zu ihrer Buchreihe https://www.degruyter.com/view/serial/466365 (10.01.2020).